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Karlstorbahnhof e.V.

Gemeinnütziges Kulturzentrum in Heidelberg

Mit Hip Hop zurück in die Zukunft

25 Jahre Hip Hop

17. Dezember 2020

Bild: Mit Hip Hop zurück in die Zukunft

Im Jahr 1995 stand der deutschsprachige Rap kurz vor dem ganz großen Durchbruch. Seither hat die Szene mehrere Generationenwechsel erlebt, doch das Wort der alten Hasen hat immer noch Gewicht. Der Heidelberger Pionier Toni Landomini blickt für uns zurück und nach vorne.

Der Karlstorbahnhof wird 25, und ist seit seinem Bestehen eine beliebte Station für Hip Hop, dem sich stetig wandelnden Phänomen, bestehend aus den elementaren Kunstformen wie Graffiti, B-Boying, Rap und dem DJing. Nicht selten darf ich selbst den Weg vom Backstage über die Wendeltreppe zur Bühne gehen, daher nehme ich gerne die Anfrage an, eine Runde zu drehen, um etwas über das Hip Hop Geschehen, seit der Eröffnung des Karlstorbahnhofs 95, zu erzählen. Da das Streckennetz so riesig ist, konzentriert sich unser Trip auf ein paar Heidelberger Kurzgeschichten. Dafür nehmen wir am besten den Zug, setzen uns entspannt ans Zeitfenster und lassen ein Vierteljahrhundert an uns vorbeirauschen.

DURCHSAGE KURZ VOR ABFAHRT: 1995 hat Hip Hop schon essentielle Phasen hinter sich, wie die Entstehung in den Siebzigern, die weltweite Verbreitung und innovative Entwicklung in den Achtzigern, bis zu den Strukturen, die sich im Underground, im Business und der breiten Medienlandschaft in den Neunzigern formen und etablieren. 1995 Mit dem Album Advanced Chemistry schließen wir das Kapitel der Pionier-Epoche ab, um mit dem frisch gegründeten 360°Records Label (1994), die Zukunft zugestalten. Nachdem ich die Stieber Twins schon seit der Schulzeit kenne und sie uns bei Auftritten nicht selten begleitet und supportet haben, freue ich mich mega über ihr Rap Debüt mit den Tracks Allein zu zweit und Die krasse Klasse auf dem Sampler Die Klasse von 95 (MZEE). Im gleichen Jahr, wie ein Pfeil, richtungweisend, zeigt sich auch das Logo der gerade gegründeten Heidelberger Streetwear Marke Illmatic Designz, welche bald in der urbanen Mode-Szene weltweit ein Zeichen setzt und uns noch stylischer aussehen lässt. TV REALITY CHECK: In dieser Phase ist das Fernsehgerät das Hauptmedium, auf dem man sich Videoclips reinzieht. Wegweisende Sendungen inspirieren, z. B. das amerikanische YO MTV Raps (1988–95) oder das erste deutsche Format Freestyle auf Viva (1993-95), welches auch Torch, neben B-Boy Storm, Scope (STF) und DJ Stylewarz moderiert. So entstehen später noch Sendungen wie Word Cup (1996–99 / Viva), Mixery Raw Deluxe (2000–2004 / Viva) oder Fett MTV (1999–2009 / MTV). 1996 setzen wir mit unserem 360° Sampler Deutschland ein Wintermärchen (angelehnt an Heinrich Heine) ein weiteres Zeichen gegen Rassismus und Antisemitismus. Darauf sind Acts wie Asiatic Warriors (später als Soloartists D-Flame und Azad bekannt), Boulevard Bou, Raid (später Teil von RAG / checkt den aktuellen Film: We almost lost Bochum), Zulu Soundsystem oder DJ Mahmut & Volkan T. Im Jahr 1995 stand der deutschsprachige Rap kurz vor dem ganz großen Durchbruch. Seither hat die Szene mehrere Generationenwechsel erlebt, doch das Wort der alten Hasen hat immer noch Gewicht. 1997 erscheint das legendäre Fenster zum Hof der Stieber Twins, so wie auch mein Album Der Pate. Beide Scheiben leiten, mit dem jeweiligen Feature von Curse, die Karriere eines großartigen Künstlers ein. 1998, nach der Gründung der europäischen Hip Hop Crew La Connessione (Gente Guasta / Souterrain Squad / Zulu Soundsystem), touren wir durch Europa und veröffentlichen die multilinguale Maxi European Attack. Als Microphone Fiend Rakim im Karlstorbahnhof spielt, retten Zulu Soundsystem (DJ Haitian Star & Boulevard Bou) mit ihrem Set die Stimmung während der Wartezeit, da er eineinhalb Stunden später als angekündigt auf die Bühne kommt. Es ist die große Zeit der Mixtapes, eine Art DJ-Visitenkarte auf Kassette. Nach dem Vorbild von DJ Tony Touch (NY) kommt das 50 MCs Tape von Zulu Soundsystem (360Rec) mit 50 Rappern auf einem Mix raus. Währenddessen bringen La Familia (Stieber Twins / Raid / Curse / Busy / Tatwaffe / STF) die Maxi Harte Zeiten raus und sind ebenfalls live gut unterwegs. 1999 kommen die Stieber Twins mit den Bangern Schlangen sind giftig und Malaria feat. Samy Deluxe & Max Herre.


ZWISCHENDURCHSAGE: „Achtung Tunnel, Festivals & Major Deals“! Zwischen 1995 und 2001 gibt es das Festival „Tunnelkult“ in Heidelberg, das im Altstadttunnel am Faulen Pelz einmal jährlich stattfindet. Veranstalter sind Kulturfenster und Karlstorbahnhof. Dort spielen u. a. Jan Delay, Ferris MC, DJ Stylewarz oder der Hip Hop Godfather Afrika Bambaataa. Die goldene Ära beginnt und mit den Festivals, wie dem Splash (1998 bis heute) oder dem Hip Hop Open (2000–2009 / 2012–2015) wächst auch das Publikum, es wird in ausverkauften Stadien gespielt. Verträge mit großen Plattenfirmen werden geschlossen, dicke Videos gedreht und Gruppen wie Absolute Beginner, Samy Deluxe, Blumentopf, Freundeskreis, um nur einige zu nennen, starten voll durch und erobern die Charts. 2000: Die Millennium Schallmauer ist durchbrochen, wir sind nur noch einen Meilensteinwurf vom Torch Album Blauer Samt entfernt. Auf dem Song Wir waren mal Stars mit dem krassen Endpart, wird gesagt „ … die Karriere ist vorbei, das war’s“. Die Ironie der Geschichte zeigt, dass dies für Heidelberg, der erfolgreichste Hip Hop Tonträger werden soll. Blauer Samt avanciert zum Meisterwerk des Genres und gleich mehrere Hip Hop-Veröffentlichungen beziehen sich namentlich darauf, wie zum Beispiel Grüner Samt von Marsimoto, Lila Samt von Sookee oder Normaler Samt von Audio88 & Yasin.


WETTERWARNUNG: Es fegt eine Berliner Welle durchs Land, bestimmt den Trend und der Zeitgeist sucht sich neue Identifikationsfiguren. Flows, Sound und Sprache bekommen weitere Farb- und Grautöne. 2002: Bei Sonnenschein schippern wir auf dem Neckar, um mit Freunden auf den Release meines Albums Der Funkjoker anzustoßen. Es folgen mehrere Tourneen. 2004: Die Zehn Jahre 360°Records Jam im Karlstorbahnhof wird ein unglaubliches Event, voller positiver Energie, mit allen Elementen und über hundert Künstlerinnen aus aller Welt! Auch Kool Savas kommt vorbei und ergreift das Mic, denn auch er wohnt zu jener Zeit in Heidelberg. Daraufhin erscheint zum zehnjährigen Bestehen die 360°Maxi-Vinyl Serie. 2006 spielt die Ikone Kurtis Blow im Karlstorbahnhof, der mir im Gespräch die Geschichte über die Entstehung des Fotos erzählt, welches auf dem Backcover seines Albums Tough (1982) zu sehen ist. Für das Shooting hat er sich einen Cadillac gemietet. Er war spät dran, zudem ist auf dem Weg ein Unfall passiert, wodurch die eine Seite des Wagens hässlich beschädigt wird. Auf dem späteren Foto ist aber nur die gute Seite zu sehen. Ein „Backcover“ im wahrsten Sinne des Wortes :). 2007: Mit der Band Safarisounds spiele ich das Album Funkanimal live ein und trete damit auf dem Heidelberger Herbst 2008 am Marktplatz auf. Ein Hammer Gig! Einen Tag später fragt mich mein damals fünfjähriger Sohn, ob er auch mal auf das große Trampolin darf. Als ich frage „auf welches Trampolin?“ sagt er: „das, auf dem du gestern mit der Band gesprungen bist“. Da wir zu einigen Songs gesprungen sind, dachte er, die Bühne sei ein Trampolin. Logisch und wundervoll, die Welt durch die Augen eines Kindes zu sehen! 2009 nehme ich ihn mit aufs Trampolin des Hip Hop Open Minded Festivals im Ehrenhof des Schlosses Mannheim. Dort spiele ich als Teil von Heidelberg Allstars. Der emotional schönste Live-Moment, als mein Sohn, ohne Absprache, ganz von alleine, dem Publikum mit seiner Hand das „L“ (für Toni-L) zeigt. Die Menge kreischt und jubelt! Mit Heidelberg Allstars sind wir auch im gleichen Jahr auf dem 20. Jubiläum des Battle Of The Year, der inoffiziellen Breakdance-Weltmeisterschaft. 2011: Noch nie zuvor wurde ein 40. Geburtstag im Hip Hop Kontext in Deutschland derart groß gefeiert und gewürdigt wie der von Torch. Eine Woche lang Programm in Heidelberg: Lesungen, Poetry Slam, Hip Hop-Stadtführung, Kinovorstellung, Party auf dem Schiff, im Club und Abschlusskonzert in der Halle02 mit Gästen wie Jan Delay, Curse, Marteria u. v. m.. 2012 werden die Stieber Twins zusammen 80 und zelebrieren live im Karlstorbahnhof mit Diamond D. (NY / D.I.T.C.) und der Crème de la Crème der Szene. 2013 spielt Big Daddy Kane im Karlstorbahnhof. Als er fragt, ob MCs im Publikum seien, stehe ich kurz darauf auf der Bühne und rocke das Mic mit ihm. Sensationell!

DER ZUGBEGLEITER BIETET KAFFEE & RAPSNACKS AN: „Wer möchte, wer hat noch nicht? Heute im Angebot, verschiedene Raps: Freestyle, Conscious- Rap, Battle-Rap, Gangsta-Rap, Pop-Rap, Hipster- Rap oder Cloud-Rap?“. Ich entscheide mich für etwas Gehaltvolles mit vielen Punchlines: „Der Zug rollt!“ 2014: Mit der wunderbaren Leiterin des Karlstorbahnhofs Ingrid Wolschin, bin ich Teil des Komitees, mit dem wir die Heidelberger Bewerbung für den Unesco Titel City of Literature erfolgreich auf den Weg bringen dürfen. Im Heidelberger Stadttheater wird bald Biedermann und die Brandstifter von Max Frisch aufgeführt, in dem ich als rappender „Chor“ agiere. UPDATE: Internet, Social Media, neuste Technik und Geräte sorgen für immer mehr In- und Output. Grob gesagt, das große Studio gibt’s jetzt als App. Die CD ist am Aussterben, doch Vinyl bleibt für Sammler *innen und Liebhaber*innen das ultimative Format. Digitale Plattformen übernehmen endgültig das Game. Hip Hop ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Große Konzerne bewerben ihre Produkte mit Rap, Graffiti, Breakdance oder fetten Beats. 2016: Was für eine Hommage! Die Beginner benennen ihr Album nach uns: Advanced Chemistry. Torch und ich begleiten ihre spektakuläre Tournee. Als wir auf einer Aftershowparty in Hamburg unschuldig unsere Schorle trinken, ruft uns Jan auf die Bühne und überreicht jedem von uns eine „Platin- Auszeichnung“. Dafür, dass ihr Album unseren Namen trägt und sie überhaupt durch uns inspiriert wurden auf Deutsch zu rappen. WOW!!!


WISSENSWERT: Neben dem Mainstream dient Rap als Werkzeug im Bildungssystem. Es gibt Schul- und Sachbücher, die genutzt werden, um das Lernen von Sprache(n) zu fördern. Universitäten befassen sich weltweit mit Hip Hop Themen. So werde ich an die Universitäten in Nancy und Bern eingeladen oder mein Freund Torch an die University of Hong Kong, das Universal Hip Hop Museum in New York und an die Mannheimer Popakademie, um als Zeitzeugen und Experten die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Hip Hop zu bereichern. Um so mehr ist es von Bedeutung, ein lebendiges Hip Hop Archiv in Heidelberg zu realisieren, um die Entstehung einer Kultur zu beleuchten, die hier in Heidelberg eine ihrer europäischen Quellen hat. Über 5000 Archivalien werden von Torch und mir an die Stadt überreicht, um in ihr Gedächtnis einfließen zu können. 2019: Auf der einen Seite wächst das Hip Hop Universum, welches aus mehreren Parallelwelten besteht, auf der anderen Seite bewahren wir unsere Attitude, wie das kleine gallische Dorf, und rocken in Heidelberg jährlich die 360° Jams. Das Publikum reist aus ganz Europa an für die 25 Jahre 360° Jam in der Halle02. Das Jubiläum wird auch erstmals im Rahmen einer Ausstellung gefeiert. Auch ich bin in diesem Jahr seit 25 Jahren 25 und spiele auf dem Heidelberger Herbst mit Freunden mein unvergessliches 50 Jahre Konzert, welches in einer überragenden Give it to me Party im Karlstorbahnhof mündet. Zudem habe ich die Ehre, das zukünftige Karlstorbahnhof- Gebäude in der Südstadt beim Spatenstich musikalisch einzuweihen. 2020 ist alles anders. Auch Kulturschaffende kämpfen um ihre Existenzen. Erfreulicherweise kann die Release- Show meiner Single mehr davon auf der Sommerbühne im Karlstorbahnhof stattfinden, sowie auch das 20 Jahre Blauer Samt Konzert, welches im Rahmen der 250 Jahre- Hölderlin-Feierlichkeiten der Stadt Heidelberg, in der Halle02 aufgeführt wird.


ANKUNFT: Toni-Lines bedankt sich für das Vertrauen aller Leser*innen im Streifzug durch die Zeilen und wünscht dem Karlstorbahnhof noch viele glückliche Spielzeiten. Alles Gute zum 25igsten!!!
One Love

Für unser Jubiläum haben wir verschiedene Fachleute um Rück- und Ausblicke auf die wichtigsten Karlstorbahnhof-Themenfelder von Antidiskriminierungsarbeit über Hip Hop bis Theater gebeten. Alle neun Artikel gibt es im Jubiläumsmagazin. Jetzt bestellen!